Kapitel 1 - Lissa

Der Mond steht hoch am sternenübersäten Himmel, er wirft sein kühles, weißes Licht auf eine grün gekleidete Gestalt. Trotz der unzähligen Schnittwunden, Rußflocken und den kleinen Kratzern liegt eine gewisse Leichtigkeit in ihrem Gang. Der Wind bauscht ihren Umhang, vermag in seinem Eifer allerdings nicht, eine der silbrigblonden Locken anzuheben.

Die sommerlichen Blumenfelder erstrahlen trotz der Dunkelheit und richten die Blüten in ihre Richtung, wann immer sie vorbei schreitet. Die junge Zauberin ist sich sicher, ihr Ziel noch in dieser Nacht zu erreichen, denn Sirius, der Wolfsstern, würde ihr den Weg zeigen.

 

Das herrschaftliche Haus prangt auf der Anhöhe eines leichten Hügels, umgeben von duftenden Kiefern und Birken, an deren Zweigen hellviolette Blüten strahlen. Allein dies ist schon Indiz genug, dass dieser Wohnsitz sich im Besitz einer höherrangigen Hexe befindet. Ohne Probleme passiert das Mädchen die Toren, immer darauf bedacht nicht auf eines der seltenen Kräuter zu treten. Die feinen Kieselsteinchen knirschen leise unter ihren Füßen und ziehen die Aufmerksamkeit des diensthabenden Torwächters auf sich.

 

„Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?“ Seine Stimme ist leise und doch erhaben und durchdringend. „Im Namen der großen Göttin Hekate wünsche ich Einlass durch diese Tore. Ich, Verbena Kanthare, eingeweihte Zauberin des Meistergrades, verspreche, dass die Herrin dieses Hauses kein Leid erfahren wird.“ Schon beim Namen, des bis zu diesem Moment noch unbekannten Mädchens, weicht der Wächter zurück. Sie durchbohrt den Mann vor ihr mit Blicken, bis er die schmiedeeisernen Flügel geöffnet hat.

Sie schwebt anmutig auf die geschlossenen Pforten der dicken Eichentür zu. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, tritt sie durch das Holz. Das summende Stimmengewirr lenkt die junge Meisterin zu einem riesigen Kellerraum. Alle Augen richteten sich auf ihr zerfetztes Kleid, welches nur noch vom feinen Stoff des Umhangs in Position gehalten wird.

 

„Lasset das Ritual zu Ehren der großen Göttin Hekate nun beginnen.“ Sie spricht die Worte mit unantastbarer Macht in der Stimme. Niemand fragt die junge Dame nach ihren Verletzungen. Einige haben diese Schmach bereits selbst erfahren müssen, andere wiederum haben einfach große Angst vor Verbena. Das Mädchen zeichnet ein Pentagramm auf den Boden des steinernen Kellerraumes. Kaum hat sie die Zeichnung vollendet, glimmen die Zacken in einem violetten Schein und fünf Zauberinnen des inneren Kreises betreten mit flammenden Kerzen jeweils eine der Ecken.

 

Göttin der Kreuzwege,

während des dunklen Mondes,

treffen sich Hexen um dich zu ehren,

auf nächtlichen Friedhöfen, in dunklen Wäldern

und auf den Wegkreuzungen,

an Orten die keine Orte sind,

zu Zeiten ausserhalb der Zeit,

dort treffen wir dich.*

 

Es ist still im kerzenerhellten Raum, einzig die Worte Verbenas hallen wieder. Eine weitere Zauberin des Kreises tritt vor. In ihren Händen ruht ein weingefüllter Silberkelch, welchen sie vorsichtig an die jüngere Meisterin übergibt. Mit jedem ihrer nächsten Worte, gießt sie einen Schwall der Flüssigkeit in eine bereitgestellte Schale.

Phosphoros

Kourotrophos

Propylaia*

 

Staub wirbelte durch die Luft, wie von Geisterhand getragen, der Wein ist verschwunden. Verbenas Wunden beginnen zu heilen und doch befindet sie sich in einem geschwächten Zustand. Mit einem ohrenbetäubenden Knall werden die hölzernen Portale, die das Haus beschützten, splitternd zerstört und die Welt scheint für einen Moment still zu stehen.

 

 

~ 18.Juni.16

(*Zitat: https://hekate-tempel.net/tag/hekate-anrufung/)